Jeder kennt es, jeder tut es: am Sonntagnachmittag entspannt mit dem Tablet auf der Couch sitzen, ein Produkt nach persönlichen Vorlieben zusammenstellen, die Bestellung absenden – und anschließend mit wachsender Ungeduld auf die Lieferung warten. Aber was läuft da beim Hersteller ab? Welche Prozesse machen es möglich, ein Quasi-Unikat zu planen, zu fertigen, zu testen, versandfertig zu machen – und bei einer Reklamation noch genau zu wissen, was wann unter welchen Bedingungen dort verbaut wurde? Ist das nicht ziemlich revolutionär? Ist es. Und deshalb spricht die Fachwelt von der vierten industriellen Revolution – kurz Industrie 4.0.
Was ist denn eigentlich genau Industrie 4.0?
Auch wenn es „die“ einheitliche Definition nicht gibt, versteht man unter Industrie 4.0 meist die konsequente digitale Vernetzung von Produkten, Prozessen, Maschinen und Intralogistik in der Fertigungsindustrie – mit dem Ziel, bisher noch brachliegende Potentiale der Produktivitätssteigerung und Flexibilisierung zu erschließen. Diese Form der Digitalisierung ermöglicht die „intelligente Fabrik“ (auch „Smart Factory“), die sich vor allem durch neu organisierte Fertigungsprozesse auszeichnet. Darüber hinaus bezieht die intelligente Fabrik aber auch Geschäftspartner, etwa externe Produktdesigner, mit ein – und eröffnet so neue Möglichkeiten, innerhalb der Wertschöpfungskette effizient und agil zusammenzuarbeiten.
Mehr noch: Das Produkt selbst wird zum Träger digitaler Informationen über seinen gesamten Lebenszyklus hinweg. Dies erlaubt auch in der Nutzungsphase ein „intelligentes“ Produktverhalten, zum Beispiel das selbstständige Auslösen von Servicemaßnahmen oder Nachbestellen von Ersatzteilen. Kurz gesagt: Es geht um eine Neuorganisation industrieller Wertschöpfungsprozesse durch Abruf, Vernetzung und Nutzung des riesigen Datenpotenzials, das in diesen Prozessen steckt. 91 Prozent der befragten Unternehmen in Deutschland schätzten in einer aktuellen McKinsey-Studie1, dass sie mit Industrie 4.0 ihre Produktivität steigern werden – immerhin noch 76 Prozent sogar, dass sie ihr gesamtes Geschäftsmodell verändern werden. Und 56 Prozent gaben an, gegenüber dem Vorjahr in puncto Industrie 4.0 weiter vorangekommen zu sein.
Wer braucht Industrie 4.0?
Zwei wesentliche Treiber dieser Entwicklung sind schnell benannt: zum einen die Notwendigkeit weiterer Produktivitätssteigerungen zur Sicherheit der Wettbewerbsfähigkeit in hochindustrialisierten, gleichzeitig aber „teuren“ Volkswirtschaften wie Deutschland. Industrie 4.0 soll hier für den nächsten Produktivitätsschub sorgen. Zum anderen schaffen wir als Konsumenten zusätzlichen Druck durch unser Nachfrageverhalten: Wir wollen immer mehr individuell gefertigte Produkte, die bezahlbar innerhalb kürzester Zeit zu uns nach Hause geliefert werden. Um diese modernen Konsumerwartungen erfüllen zu können, müssen in den Produktionsbetrieben Alternativen zur traditionellen Massenfertigung her.
Wo früher Wettbewerbsvorteile nur durch möglichst uniforme Produktserien und maximalen Stückzahlen erreicht werden konnten, ist der Markt in den vergangenen Jahrzehnten kontinuierlich käufergetriebener geworden – und Industrie 4.0 könnte dem noch einmal eine völlig neue Dimension verleihen. Welchen Weg wir auf dem Weg vom Massen- zum individuellen Produkt bereits zurückgelegt haben, lässt sich gut am Beispiel des Autobauers Ford nachverfolgen. 1913 versprach der legendäre Firmengründer Henry Ford seinen Kunden mit unverkennbarer Selbstironie: „You can have the T-Model in any colour – as long as it’s black.“ Heute, mehr als 100 Jahre später, lassen sich beim Ford F 150 insgesamt 16 Ausstattungskategorien zu 653.687.735.500.800 theoretisch möglichen Konfigurationen kombinieren – immerhin 12.870 davon werden tatsächlich vermarktet.
Wie sieht eine Smart Factory konkret aus?
Die voll ausgestattete „Industrie 4.0“-Fabrik gibt es noch nicht. Vordenker wie Siegfried Dais von der Robert Bosch Industrietreuhand KG sehen vielmehr einen graduellen Prozess, bei dem nicht einfach der Stecker der alten Technik gezogen wird, um am nächsten Tag in eine neue Welt einzutreten. Etliche Bausteine, die letztlich in Summe „Industrie 4.0“ ausmachen, sind aber schon heute nutzbar. vor ein paar Jahren zeigte ein Forschungsprojekt der gemeinnützigen Technologie-Initiative SmartFactory KL e.V., wie sich in einer intelligenten Produktionsstraße individuelle Seifenmischungen in Losgröße 1 herstellen lassen – mit durchaus wettbewerbsfähigem Aufwand.
Mittlerweile ist die Idee längst aus den Kinderschuhen herausgewachsen und in der realen Industrie angekommen: Für die Dr. Wolff Gruppe in Bielefeld entwickelten die Firmen Optima, Festo und Siemens in Kooperation ein Multi-Carrier-System, auf dem sich eine nie gekannte Variantenzahl an Haarpflegeprodukten auf einer einzigen Maschine produzieren lässt. Die radikale Abkehr vom alten Prinzip „Eine Maschine für ein Produkt“ – und die Verkörperung von Industrie 4.0 durch konsequente Digitalisierung von der Planung über die Simulation bis zu Inbetriebnahme und Betrieb. „Was wir in unserer Industrie machen, ist revolutionär“, bestätigt denn auch Dr. Martin Strampfer, der das Projekt als Mitglied der Geschäftsleitung auf Kundenseite verantwortete.
Der Schlüssel zur totalen Flexibilisierung sind variabel miteinander vernetzte Automatisierungs- und Kommunikationskomponenten, die zu jeder Zeit selbstständig Einfluss auf die Produktionsparameter nehmen. Auch Prof. Dr. Henning Kagermann, Präsident der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften acatech, ist überzeugt, dass die jahrelang gültige goldene Produktionsmaxime „Think Big“ bald dem „Act Smart“ weichen wird. Er sagte in einem Vortrag zum Thema Industrie 4.0: „Die Herstellung individualisierter Produkte zu den Kosten eines Massenprodukts wird Realität.“
Wie werden Produkte in der Industrie 4.0 „intelligent“?
Einfach ausgedrückt: All das wird möglich durch die Integration von Dingen und Daten. Man spricht deshalb auch von „cyber-physikalischen Systemen“ – also Gegenständen und Einrichtungen, die zum einen real existieren, zum anderen aber einen „digitalen Zwilling“ besitzen. Auf das Werkstück oder entstehende Produkt bezogen heißt das: Der Zwilling speichert alle Daten, die für die Produktion wichtig sind und in der Produktion entstehen. Mit diesen Daten werden dann die Protagonisten versorgt, die erforderlich sind, um das Produkt weiterzubearbeiten oder zu transportieren – ob dies eine Maschine, eine Lackiereinrichtung, ein Förderband oder ein Hubwagen im Hochregallager ist. Sensoren erfassen den Zustand von Maschinen und Produkten, günstig erhältliche Kommunikationstechnologien wie RFID ermöglichen das Speichern und das Lesen der Informationen. Vernetzt sind alle Teilnehmer einer solchen dezentralen, intelligenten Fertigung über das „Internet der Dinge“. Bis zum Jahr 2020, so schätzen Analysten, könnte es rund 50 Milliarden internetfähige industrielle Produkte, Gegenstände und Infrastrukturen geben.
Fazit #1
Industrie 4.0 steht in der deutschen Industrie als Oberbegriff für eine Entwicklung, bei der die gesamten industriellen Wertschöpfungsprozesse digital miteinander vernetzt sind. Davon erwarten die Unternehmen vor allem eine weitere Steigerung der Produktivität, kürzere Produktlebenszyklen sowie neue Möglichkeiten, immer individuellere Kundenwünsche schneller und wirtschaftlicher zu realisieren. Viele Experten gehen von einer Entwicklung aus, bei der IT, Maschinenbau und Prozesstechnik allmählich zu einem neuen Ganzen zusammenwachsen – und unser heutiges Verständnis von Industriefertigung und Logistik grundlegend verändern werden.
Lesen Sie in Kürze:
McKinsey versus IHK – wir haben zwei Studien zum Reifegrad von Unternehmen für Industrie 4.0 übereinandergelegt. Wie konsistent oder unterschiedlich sind die Ergebnisse? Demnächst im Blog der B2B Kommunikationsagentur gernBotschaft.
Artikelserie „Industrie 4.0“:
- Industrie 4.0 – #1: Smart Factory – Gegenwart und Zukunft
- Industrie 4.0 – #2: Neue Wege der Wertschöpfung
- Industrie 4.0 – #3: Big Data als Produktionsressource
- Industrie 4.0 – #4: Wo stehen wir heute – und wo wollen wir hin?
1 McKinsey Digital, 2016: Industry 4.0 after the initial hype
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